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Wikipedia: "Die Synästhesie (von altgriechisch συναισθάνεσθαι synaisthánesthai "mitempfinden, zugleich wahrnehmen") bezeichnet hauptsächlich die Kopplung zweier oder mehrerer physisch getrennter Modalitäten der Wahrnehmung. Sie kommt durch Verflechtung von Sinnesmodalitäten zustande. Menschen, die Wahrnehmungen derart verknüpft erfahren, werden als Synästheten oder Synästhetiker bezeichnet."
Wichtig scheint mir zu wissen, dass Synästhesie nichts Krankhaftes ist, sondern lediglich eine Spielart der Natur.
SYNÄSTHETIKERIN?
Lange wusste ich nicht, ob ich eine Synästhetikerin bin oder nicht. Bereits in meiner Ausbildung zur Farbgestalterin Ende der 90er Jahre tauchte diese Frage aus, da ich ein Ocker als bitter bezeichnet hatte. Meine Verblüffung war gross, als mich jemand fragte, warum denn das Ocker bitter sei. So logisch fand ich das, dass es in meinem Denken keine Vorstellung davon gab, dass andere Menschen das anders empfinden könnten. Da nur etwa 4% der Menschen Synästhetiker sind, dachte ich damals, dass ich wohl kaum davon betroffen sei.
Vor einiger Zeit nahm ich an einer Studie mit Test von der Uni Bern teil, und nun weiss ich es: Ich bin Synästhetikerin. Willst du es auch wissen? Hier geht’s zum Test. Falls du auch damit beschenkt bist: Gib unbedingt Bescheid.
Bist du bereit für eine Reise ins Land einer Synästhetikerin? Dann lies weiter.
FARBEN
Kleidung in bestimmten Farben lösen auf meiner Haut einen Reiz aus. Dazu gehören vor allem Pink und Rot sowie alle zu reinen Farben. Die Töne können mir optisch gefallen, doch sie lösen Empfindungen wie brennen, jucken oder klemmen aus. Sie können mir schwer auf dem Herzen liegen oder meine Haut surren oder flimmern lassen. Da merkst du es bereits: Haut kann eigentlich weder surren noch flimmern, aber so fühlt es sich eben an. Das kann mich regelrecht bedrängen, da es schlicht zu viel Reiz ist. Es bleibt nichts anderes, als nach kurzer Zeit die Kleidung wieder auszuziehen.
Ich sehe farbige Kleidung jedoch sehr gerne an anderen Menschen. Es erfreut und belebt mich, solange sie nicht selbst auf meiner Haut aufliegt und ich jederzeit den Blick abwenden kann.
Dann gibt es Farben, die fühlen sich auf eine ruhige Weise angenehm neutral an. Dazu gehört Schwarz, das sich wie ein weicher Mantel um mich legt. Auch Grau, das mich beruhigt und mir eine Pause schenkt. Das ist der Grund, warum immer noch der Grossteil meiner Kleidungsstücke schwarz ist.
Seit etwa zwei Jahren entdecke ich Farben, die mir angenehme Gefühle schenken. Dazu gehören Tintenblau und ein dunkles Taubengraublau. Ein Glücksfall neueren Datums ist ein Graulila, welches bei einem Färbeprozess recht zufällig entstanden ist. Diese Nuance erlebe ich als beruhigend und erfrischend zugleich. Sie ist weniger neutral aber von einem vergleichbaren Schmelz wie Grau, jedoch löst sie mehr Freude in mir aus. Mit Schmelz meine ich das Gefühl, dass sich die Farbe an mich schmiegt und mit meiner Haut verschmilzt.
ZAHLEN UND BUCHSTABEN
Doch da sind ja auch noch die Zahlen und die Buchstaben. Ich sehe seit meiner Kindheit die Buchstaben und Zahlen farbig vor meinem inneren Auge. Die über die Synästhesie ausgelösten Reize sind übrigens immer gleich und reproduzierbar. Also meine "6" ist seit ich denken kann tintenblau. Ein weiteres Beispiel ist die Jahreszahl 2024. Sie ist so unangenehm zu schreiben für mich, weil ich da ständig diese Farbkombi sehe, die sich schlecht anfühlt: Caramellbeige (2) und dieses uninspirierte Mittelgrün (4) dazu, etwas aufgelockert durch ein bläuliches Kreideweiss der "0". Was für eine hölzerne, stabile und unelegante Zusammenstellung!
AUGENMUSTER
In meinem Wachzustand sehe ich ständig mein Augenmuster, wenn ich meine Augen schliesse. Diesen Namen habe ich ihm selbst gegeben und bereits jeden Neurologen, Psychiater, Psychologen und Optiker der mich behandelte, danach gefragt. Kein Mensch konnte mir sagen, was ich da sehe. Inzwischen vermute ich auch da den Zusammenhang zur Synästhesie. Ich sehe vor meinem inneren Auge beständig ein nie endendes Kaleidoskop von sich verändernden Farben und Formen. Es bildet das Erregungsniveaus meines Körpers ab. Beim Meditieren beispielsweise werden die Formen rund und wabernd und bewegen sich im Zeitlupentempo. Der Raum ist dann schwarz und darin schweben pulsierend dunkelrote, magentafarbene und violette organische Formen. Das Bild erinnert etwas an eine Lavalampe. Am anderen Ende der Skala gibt es den visuellen Eindruck, wenn ich komplett übererregt bin und viel zu viele Reize aufgenommen habe. Dann sieht mein Augenmuster aus wie das "Schneien" am Fernseher (gibt es das heute überhaupt noch?). Kleinste Punkte in Schwarz und Weiss blinken und flimmern schnell und spitz und drängend. Der normale Alltagszustand sind sich ständig verändernde Farben und Formen, die so schnell wechseln, dass mein Sprechtempo kaum mitkommt.
HÖREN
Bestimmte Töne lösen eine gefühlte Berührung aus. Das kann sehr unangenehm sein, und ich meide solche Geräusche wann immer möglich. Das kann sich dann anfühlen wie ein Schlag in die Magengrube
oder das Gesicht. Dazu gehören Türe knallen, Hundebellen und lautes Zuschlagen einer Autotür.
Welches Augenmuster Naturgeräusche erzeugen, kannst du hier sehen. Und zum Glück gibt es auch Geräusche, die angenehme Gefühle
hervorrufen. Wunderbar sind die Töne fliessenden Wassers, das etwas gluckert. Das fühlt sich an wie inwendiges Streicheln des Körpers. Mein Lieblingsgeräusch.
SEHEN
Ein weiterer Sinn ist das Sehen: Als ich als junge Frau in einem Interdiscount war, liefen dort mehrere Fernseher gleichzeitig. Sie füllten eine ganze Wand, und ein Blick darauf löste schlagartig Übelkeit und Schwindel aus. Ich fragte sofort meinen damaligen Freund, wie kannst du da nur hinsehen. Doch er konnte nichts Besonderes feststellen. Ich fragte mich laut weiter, wie die Menschen dort arbeiten können und musste mich umdrehen und den Blick abwenden. Und so stand ich da, mit dem Rücken zum Verkäufer, und verzichtete darauf, noch irgendetwas erklären zu wollen. Ich kam mir ziemlich bescheuert vor und gleichzeitig war es mir völlig unverständlich, dass andere Menschen das aushalten konnten.
Und selbstverständlich lösen Getränke aus dem Kühlschrank und helles Licht Kopfschmerzen aus. Deshalb gibt es abends in meiner Wohnung nur gedämpftes Licht und Kerzen.
GERÜCHE
Da wird es ganz heikel für mich. Fast alle synthetisch hergestellten Gerüche lösen ein Stechen, Brennen oder/und Pulsieren im Innern der Nase aus. Es fühlt sich an, als ob die Schleimhaut entzündet wäre. Andere wiederum fühlen sich wie eine Druckwelle am ganzen Körper an. Das nenne ich dann einen "olfaktorischen Chlapf zum Gring". Und es gibt solche, die fühlen sich an, als ob ich innerlich von unten nach oben gedreht würde. Oder sie lösen ein Kräuseln und Summen im Herzbereich aus. Ganz allgemein bin ich sehr geruchsempfindlich und fühle mich am ruhigsten, wenn etwas kaum oder nur leicht riecht. Ich würde gerne ein leichtes Parfum tragen, aber mehrere Versuche in den letzten Jahren haben mir gezeigt, dass das so stressig ist wie bunte Kleidung zu tragen.
BERÜHRUNG
Es gibt Formen und Texturen, die lösen beim Berühren ganz aufregende Körperempfindungen aus. Ich spüre dann nicht nur die Oberfläche des Objektes, sondern am ganzen Körper eine angenehme Empfindung. Es kann dann der starke Wunsch geweckt werden, diese Form oder Textur immer wieder ertasten oder darüber streichen zu wollen. Ein Beispiel dafür ist ein Objekt, das ich aus flüssigem Wachs zwischen meinen Handflächen gedreht habe, so dass eine flache Form wie ein Stein entstand. Dasselbe passierte mit einer ähnlichen Form aus Lehm, ich konnte kaum noch aufhören.
Auch das Material der Textilien kann ich daran erkennen, welches Gefühl die Berührung auf meiner Haut auslöst. Acryl beispielsweise fühlt sich seifig an und hinterlässt nach der Berührung ein klebriges Gefühl. So ist es für mich undenkbar, Kleidungsstücke zu tragen, die aus Polyacryl hergestellt sind.
GESCHMACK
Da ist Ruhe im Karton! Dieser Sinn ist beschränkt auf seine eigentliche Wahrnehmung.
Bei all diesen Empfindungen und Sinnesreizen fällt es mir schwer, genau zu definieren, wo die Hellsinne beginnen. Für mich ist der Übergang fliessend. Ich gehe davon aus, dass auch meine Kunst von meiner Synästhesie beeinflusst ist. Die gewählten Farbkombinationen und Formen müssen "richtig" sein, sonst spüre ich eine unangenehme Spannung im Körper. Dabei ist mir klar, dass andere Synästheten völlig anders empfinden und mein Richtig für falsch wahrnehmen können.
Wie denkst du nun über Synästhesie? Hast du eine Vorstellung entwickeln können, wie sich das anfühlt? Kennst du das vielleicht selbst? Dann lass es mich unbedingt wissen!
Alles Liebe, Barbara
Zum weiterschauen:
Synästhesie: Verschmolzene Sinne – wenn Töne Farben haben | Quarks: Dimension Ralph (youtube.com)
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Maja (Montag, 29 April 2024 18:40)
Huuuch, schön und anstrengend zugleich, diese Synästhesie. Du hast mir zwar mal erzählt davon, aber einen Begriff davon habe ich erst jetzt, nach dem lesen deines Textes.